Freitag, 15. Oktober 2010

Geschmackssache.

Wenn man zu der aussterbenden Spezies derjenigen gehört, die noch Musikmagazine mit ausführlichen Kritiken der Neuerscheinungen liest, trifft man immer wieder auf das Homogenitätssysndrom.
Während sich Theater-, Kino- und vor allem Buchkritiker gerne um ein Urteil drücken und in aller Weitschweifigkeit ein entschiedenes „Sowohl, als auch!“ verkünden, trauen sich Musikjournalisten durchaus mal eine neue CD zu verreißen, oder zu bejubeln.

Ich finde das sehr rätselhaft, da für mein Gefühl Musik die Kunstgattung ist, die sich am meisten einer objektiven Bewertung entzieht.
Nun ja, man kann vielleicht gerade noch übereinstimmend feststellen, was wirklich durch und durch handwerklich schlecht ist - sagen wir Sarah Connor oder Lena Meyer-Dingsbums - aber das bedeutet noch lange nicht, daß solche Ohrenbluten verursachenden akustischen Machwerke nicht kommerziell außerordentlich erfolgreich sein können.

Wieso und was erfolgreich wird, kann man nicht vorher sagen.
Ich könnte noch nicht mal sagen was „gut“ ist.
Mir gefallen hochkomplexe artifizielle Stücke, aber auch manchmal erstaunlich simpel gestrickte Songs, denen scheinbar jede Orginalität abgeht.
Ein komplexes Phänomen.

Wenn sich die Damen und Herren Kritiker aber vollkommen einig sind, werde ich immer sehr skeptisch.
Besonders auffällig waren zuletzt zwei CDs.

„The Suburbs“ von Arcade Fire wurde durch die Bank weg von allen gelobt. Ein Meisterwerk! Da war kein Superlativ zu groß und ich erwartete schon eine echte Offenbarung.
Na, das war vielleicht eine Enttäuschung! Ich finde, es handelt sich hierbei um das schwächste Arcade Fire-Werk bisher.
Professionell gemacht, aber ganz und gar ohne zündende Ideen.


Das Gegenbeispiel ist „Happiness“ von THE HURTS. Dazu habe ich nichts als Verrisse gelesen. Primitivste 80er Jahre Kopie sei das; steril und langweilig.
Hier empfinde ich genau umgekehrt. Für Elektropop-Verhältnisse finde ich das Album ausgesprochen gelungen. Nicht überkandidelt, von krassen Soundeffekten verschont, minimalistisch , aber durchaus sehr melodisch und professionell produziert.
Songs wie „unspoken“ finde ich sogar extrem ohrwurmig.

Zuletzt möchte ich - mal wieder - Antony Hagerty (Antony and the Jonsons) erwähnen, dessen neue CD SWANLIGHTS und EP THANK YOU FOR YOUR LOVE kürzlich erschienen.

Den omnipräsenten Duettisten hatte ich in diesem Blog bereits erwähnt; der Transsexuelle ist schon lange kein Geheimtipp mehr.
Sein neues Album erfährt nun von der Presse ebenfalls ein eindeutiges Urteil: Pures Lob! Reihenweise verbeugen sich die Schreiberlinge vor seiner Stimme und seinen Arrangements.

Machen Antony And The Johnsons eigentlich Musik, die man noch als Pop fassen könnte? Sie treten ja mitunter in Opernhäusern auf, von Sinfonieorchestern begleitet, damit Hegartys Belcanto erst so recht zur Geltung komme. Schwulst-Camp à la Freddie Mercury oder Kunst-Camp à la Bryan Ferry – wie auch immer: In puncto Anverwandlung von Elementen klassischer Musik, ohne dabei gleich ins Pompös-Progrockige abzudriften, gibt es zurzeit vielleicht nur mit Joanna Newsom Vergleichbares. Höhepunkte auf "Swanlights" sind das düstere Titelstück mit seinem unheilvollen Gitarren-Gedröhne und das kammermusikalisch-träumerische "The Spirit Is Gone" sowie "Flétta", ein großartiges Duett mit Björk.
(
Intro)

Ganz großes, aber auch ganz leises Ohrenkino. Zum Zerbrechen zart: "Swanlights" – das neue Album von Antony and The Johnsons.
[…] Dann verwandelt sich dieser von Weltschmerz und Realitätsflucht angekränkelte Kammerpop in die schönste, traurigste, intimste, erhabenste und trostspendendste Musik, die überhaupt denkbar ist. Wie ein Kokon umschmiegt einen der einzigartige Gesang von Antony Hegarty, der keineswegs, wie immer wieder zu lesen ist, eine Knabenstimme besitzt. Sondern eine, die schwerelos zwischen Lebensaltern und Geschlechtern wie zwischen allen Stimmlagen von Mezzosopran bis Bariton zu wandeln scheint. Das Transitorische ihres Klangs spiegelt dabei die sexuelle Identität des 39-Jährigen, der sich seit frühester Jugend als weibliche Person in einem männlichen Körper empfindet. […] Eine Platte, die einen durch einen langen Winter tragen kann. Oder durch das ganze Leben. Wie viele Platten von Antony braucht der Mensch? So viele, wie es gibt.
(Tagesspiegel)

Das neue Album von Antony And The Johnsons flüchtet vor der Welt: “Swanlight” benebelt den Hörer und entlässt ihn erholt in die Gegenwart. […]Wie Antony Hegarty, der Poet am Piano, seine elf zutiefst analogen Stücke mit operettenhafter Stimme in die digitale Welt entlässt, wirken sie wie kleine Fluchten. Man kann ihnen eine Dreiviertelstunde lang in merkwürdige Zwischenwelten folgen, um völlig entspannt zurückzukehren in die Hektik des Hier und Jetzt.
(Zeit)

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In diesem Fall dürfte es einen speziellen Grund haben, daß sich alle Kritiker so einig sind mit ihrem Lob: Es ist gerechtfertigt.

„Swanlights“ ist tatsächlich ein Meisterwerk und gehört in jeden CD-Schrank.





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